Zum Inhalt springen

Der NSU und Wir

Womöglich müssen wir uns eingestehen, dass der Nationalsozialistische Untergrund (NSU), der zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen hauptsächlich wegen ihrer ausländischen Herkunft ermordete und viele weitere verletzte erfolgreich war: Er hat eine Spirale in Gang gesetzt, an deren vorläufigem Höhepunkt im Jahr 2017 eine rassistische und rechtsextreme Partei mit einem überwältigen Ergebnis von über 13 Prozent in den Deutschen Bundestag eingezogen ist.


(Bildquelle: Wikipedia)

Zu was diese Entwicklung bereits jetzt geführt hat zeigt der tägliche Blick in die deutsche Medienlandschaft. In einem atemberaubenden Tempo wurden Sprach- und Argumentationsmuster der Rechten übernommen und verinnerlicht. Günther Jauch wird in die deutsche Mediengeschichte eingehen als derjenige, der die Neonazis der Neuen Rechten als einer der ersten auf die große Bühne der bundesweiten Öffentlichkeit hob – und ihre Deutschlandflaggen über Jahre in den Wohnzimmern verankerte. Inzwischen sind wir bereits daran gewöhnt.

Inzwischen frage ich mich tatsächlich, ob die Rechten ihrem Ziel einer Kulturrevolution tatsächlich immer näher kommen oder ob wir einfach einsehen müssen, dass wir über die vergangenen Jahrzehnte schlicht verdrängt haben, dass wir immer noch in einer Gesellschaft leben, die den Aufstieg der Nationalsozialisten hofierte und die Schuld des Holocaust zu verantworten hat. Immerhin entfiele damit endlich die Ausrede, wir müssten uns die Schuld unserer Vorfahren nicht mehr anziehen und für ihre Verbrechen gerade stehen. Das Gegenteil ist der Fall – und es war nie anders.

Stellen wir uns – ich schieße mich ganz besonders laut mit ein – vor den Spiegel und schauen wir uns tief in die Augen und dann fragen wir uns, was wir in den vergangenen Jahren eigentlich getan haben, nachdem die schreckliche Mordserie des NSU bekannt wurde? Können wir auch nur den Namen eines einzigen Mordopfers (außer Kiesewetter) aufzählen? Was haben wir geleistet zur gesellschaftlichen Aufarbeitung oder zur Bewahrung der Erinnerungskultur an das schrecklichste nationalsozialistische Verbrechen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges? Und jetzt, was tun wir in Anbetracht von unzähligen Menschen, die bei uns Schutz vor Krieg, Armut, Verfolgung und Vertreibung suchen, während die nationalsozialistischen Reflexe der deutschen Gesellschaft wieder aufflammen? Eine Gesellschaft, die mit Rechten redet und die Linke, Andersdenkende und Gutmenschen als Verbrecher geißelt.

Geschichte entsteht immer erst im Rückblick. Aktuell schauen wir auf die ersten 17 Jahre eines Jahrhunderts, das noch immer deren 83 vor sich hat und für dessen Prägung wir verantwortlich sein werden. Es bleibt also noch genug Zeit, aus der aktuellen Starre aufzuwachen und (wieder) aktiv zu werden. Es ist auch unsere Gesellschaft, es ist auch unsere Geschichte. Sie werden in Zukunft für immer ganz eng mit unseren Namen und mit unserem Handeln (oder Nichthandeln) verbunden bleiben. Geschichte verläuft nie linear, die Zukunft ist nicht unabwendbar. Ganz im Gegenteil, wir haben genug Zeit vor uns, um zu verhindern, dass unsere Kinder und Enkelkinder irgendwann auf uns zurückschauen, wie wir es auf unsere Groß- und Urgroßeltern tun, und uns fragen: „Was habt ihr eigentlich dagegen getan?“

Gestern fand im Heimathafen Neukölln eine Veranstaltung der Bühne für Menschenrechte statt, die mir sehr ans Herz ging und die ich euch mit allerherzlichstem Nachdruck nahe legen möchte: Die „NSU Monologe“.

Während im Münchner NSU-Prozess gerade die Plädoyers gegen Zschäpe und Co. halten, erzählen die NSU-Monologe von den jahrelangen Kämpfen dreier Familien der Opfer des NSU – von Elif Kubaşık, Adile Şimşek und İsmail Yozgat: von ihrem Mut, in der 1. Reihe eines Trauermarschs zu stehen, von der Willensstärke, die Umbenennung einer Straße einzufordern und vom Versuch, die eigene Erinnerung an den geliebten Menschen gegen die vermeintliche Wahrheit der Behörden zu verteidigen.

Die NSU-Monologe sind dokumentarisches, wortgetreues Theater, mal behutsam, mal fordernd, mal wütend – roh und direkt liefern sie uns intime Einblicke in den Kampf der Angehörigen um Wahrheit und sind in Zeiten des Erstarkens von Rechtsextremismus an Aktualität kaum zu überbieten.
(Quelle: heimathafen-neukölln.de)

Es war ergreifend und äußerst bewegend. Und vielleicht wird uns erst durch diese emotionale Nähe zu den Opfern und ihren Hinterbliebenen das Ausmaß des Verbrechens richtig bewusst, dass da inmitten unter uns – und unter Schutz und Beihilfe unserer Behörden, Medien und in gewisser Weise auch uns – begangen wurde. Wir leben in einer Filterblasenzeit, in der wir negative Nachrichten und Gefühle bewusst und unbewusst aus unserem Sichtfeld entfernen. Wir ärgern uns über Flugausfälle und tun dies im sozialmedialen wie im persönlichen Kreis kund, aber die Verletztheit, der Ärger und unser Mitgefühl für die wahren Verbrechen dieser Zeit gehen leider oftmals viel zu sehr unter zwischen all den oberflächlichen, selbstreferentiellen und letztlich irrelevanten bunten Happy-Hippie-Hipster-Meldungen.

Nehmen wir das absehbare Ende des (enttäuschenden) NSU-Prozesses in München zum Anlass aktiv zu werden und die dringend benötigte Aufarbeitung und Konsequenzen, denen sich Exekutive und Judikative beharrlich verweigern in die Hände der Zivilgesellschaft zu legen. Der institutionalisierte Rassismus und Rechtsextremismus wird nicht aus dem Inneren eines ihn zu verantwortenden Systems bekämpft, sondern kann wirklich effektiv nur von einer außerparlamentarischen Opposition in Form einer gesunden und lebendigen Zivilgesellschaft aufgebrochen werden. Von uns.

Zeigen wir den Angehörigen der Ermordeten unseren Respekt, indem wir uns interessieren, informieren, diskutieren, intervenieren, engagieren. Zeigen wir den Menschen, die mitten unter uns angegriffen, verfolgt, bedrängt, verletzt, beleidigt und mit Hass konfrontiert werden, nicht alleine sind. Zeigen wir Menschlichkeit. Übernehmen wir Verantwortung. Beweisen wir, dass der große Teil der Menschen gut ist.

Die Verbrechen des NSU werden auch mit dem Ende des Gerichtsverfahrens nicht aufgelöst, geschweige denn aufgearbeitet sein. Der Nationalsozialistische Untergrund, er existiert weiter und durchsetzt unsere Gesellschaft. Angela Merkel hat ihr Versprechen einer vollständigen Aufklärung von 2012 nicht gehalten und steht damit sinnbildlich für die deutschen Offiziellen. Für uns alle. Für uns als Zivilgesellschaft heißt es deswegen: Dran bleiben!

An Tag X², dem Tag der Urteilsverkünding im NSU Prozess wird es bundesweite zu Aktionen und Demonstrationen kommen – Kein Schlussstrich! – NSU-Komplex aufklären und auflösen!

Schlagwörter: