Seit etwa vier Milliarden Jahren gibt es Leben auf dem Planeten Erde. Ein langer Zeitraum, in dem das Leben seine Formen durchgängig verändert und weiterentwickelt hat. Jedes einzelne Wesen versucht seither zu bewahren, was es überlebensfähig; auszubauen, was es stärkt; und neu zu entwickeln, was es im aktuellen Moment noch verletzlich macht. Jedes Lebewesen hat hierbei seine ganz eigenen Wege durch die Zeit gefunden. Und nur der ständige Anpassungsprozess an eine sich fortlaufend verändernde Welt macht das Leben darin erst möglich.
Ihren ganz speziellen Weg durch die Zeit fanden nicht nur die großen, sondern ganz besonders auch die kleinen Geschöpfe dieses Planeten. So auch die Raupe. Das Leben der Raupe mag ganz nett sein. Tag für Tag robbt sie durch das Unterholz; frisst sich durch grüne Blätter und erkundet jeden Tag aufs neue eine Welt, in der vieles Unbekannt und das meiste Unerreicht bleiben wird. Daher mutet ihr Leben vielleicht sogar etwas eintönig, wenn nicht gar beschränkt an. So verbringt sie doch den größten Teil ihrer Zeit damit, durch das Dickicht zu kriechen, sich dabei möglichst vor allen etwaigen Gefahren des Lebens zu verstecken und ihrem unbändigen Hungergefühl nachzugehen. Keine Frage, Raupen sehen in ihrem Leben viel von der ihr zugänglichen Welt. Ihre Perspektive erlaubt ihnen allerdings nur einen sehr eingeschränkten Blickwinkel; von unten und aus ihrer verborgenen Schutzzone heraus.
Irgendwann jedoch beginnt sich in der Raupe etwas zu verändern. Das immer gleiche Leben der Raupe ist weitestgehend auf kriechen, verstecken und fressen fokussiert. Ein Leben, das von Sinnstiftung weit entfernt ist. Die Raupe wird müde. Sie wird nicht nur müde von ihrem bisherigen Dasein, sondern es beginnt tief in ihr drin zu zucken. Die Raupe spürt, dass sie vor eine Entscheidung gestellt wird: Die Veränderung wagen und womöglich eine ganz neue Sicht auf die Welt zu erhalten oder aber für immer bleiben in der für sie bekannten Umgebung?
Es ist nicht so, dass die Raupe sich Gedanken über diese Vorgänge macht. Vielmehr ist es ihr biologischer Körper, der sie dazu zwingt. Grund dafür sind die so genannten Imago-Zellen. Sie beginnen irgendwann in der Raupe heranzuwachsen. Diese Zellen unterscheiden sich von den bestehenden Zellen der Raupe fundamental. Sie schwingen in einer völlig neuen Frequenz und sind die biologischen Vorboten eines zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Lebewesens. Weil das Immunsystem der Raupe diese Zellen jedoch nicht kennt und nicht versteht, dass sie aus dem eigenen Körper hervorgehen, ordnet es diese als Feinde ein und beginnt sie zu bekämpfen.
Doch so sehr das alte System sich auch bemüht, die neuen Zellen zu zerstören, einmal aufgetaucht, sind sie nicht mehr aufzuhalten und bilden sich immer wieder aufs Neue. Irgendwann kommt das Immunsystem der Raupe nicht mehr hinterher, die neuen Zellen zu vernichten. Einmal da, lassen sich Ideen und Lauf der Zukunft nicht aufhalten, geschweige denn rückgängig machen. Dann irgendwann beginnen die neuen Zellen, zu schwingen und sich zu verknüpfen. Sie tauschen sich untereinander aus, kommunizieren miteinander, bilden Netzwerke.
Und dann irgendwann begreifen die Zellen, dass sie etwas Neuartiges, etwas Gemeinsames sind. Dass sie nicht mehr abhängig sind von dem alten Körper der Raupe, der sie immer nur bekämpft, um das alte zu bewahren; der sie fesselt; sie zum kriechen und verstecken zwingt. Gemeinsam sind sie nicht nur ein neues Lebewesen, sondern auch stark genug, den letzten Schritt zu gehen, um dieses neue Geschöpf zum Leben zu
erwecken. Dies ist der Moment, in dem aus der kleinen braunen Raupe ein großer bunter Schmetterling wird. Ein neues Lebewesen, das sich in die Höhe erhebt und die Welt aus einer völlig neuen Perspektive betrachten kann; das vom süßen Saft der Blumen kostet und gleichzeitig ein wichtiges Glied in der Kooperative der Weiterverbreitung von Leben darstellt. Der Schmetterling, ein buntes Lebewesen, dessen kleiner Flügelschlag die Welt verändern kann.
Wir als Menschen können von der Raupe viel lernen. Mitunter kann sie uns vielleicht sogar tatsächlich als Vorbild dienen. Denn wir leben im Moment in einer Zeit des Übergangs. Unsere Gesellschaft sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob wir uns als Kollektiv in eine unbekannte bunte Zukunft erheben oder ob wir in einer uns bekannten eintönigen Welt des Gestern einigeln möchten.
Wir können gerade ganz offen dabei zuschauen, wie das reaktionäre System mit allen Mitteln darum kämpft, die Veränderung zu verhindern und das Altbekannte zu wahren. Dabei ist es egal ob wir nach Deutschland (AfD) schauen, oder nach Österreich (FPÖ), nach Polen (PiS), Ungarn (Orban), Frankreich (Front National), die Niederlande (Wilders) Großbritannien (Brexit) oder in die USA (Trump). Nahezu überall auf dieser Welt sehen wir radikale Kräfte von rechts, die sich ein letztes Mal aufraffen, die von manchen bereits als etabliert geglaubten Impulse zu zerstören, die von einer neuen bunten und aufgeschlossenen Zukunft träumen. Doch so laut und aggressiv jene Kräfte auch sind, so sehr sie auch für sich in Anspruch nehmen, auf der richtigen Seite zu stehen und die vermeintliche Mehrheit zu vertreten, ich bin voll und ganz davon überzeugt, dass sie dauerhaft nicht gewinnen werden.
Denn genauso wie die Imago-Zellen der Raupe, sind auch die Ideen und Konzepte einer weltoffenen Gemeinschaft längst in der Welt und in unseren Herzen bereit tief und fest verankert. Das aufbegehrende alte System hat bei seinem Kampf um die Zukunft wenig Konstruktives anzubieten. Es bedient sich weitestgehend der Angst und setzt auf „dagegen sein“. Angst vor dem Unbekannten, das es schürt und gegen das Neue, das es verachtet. Doch Angst ist ebensowenig überlebensfähig wie das destruktive Dagegen. Wir hingegen sollten auf eine positive Weise dafür sein: Für Veränderung. Für das Neue. Für eine offene Welt, in der alle einen gleichberechtigten Platz erhalten.
Das heißt nicht, dass wir alles verwerfen sollen, was wir bisher erarbeitet haben. Denn was sich über Jahrtausende unseres Daseins entwickelt und bewährt hat, gehört auch in die Zukunft transformiert. Aber Festhalten und Stillstand, Angst und Starre helfen uns als Gemeinschaft nicht weiter. Veränderung nicht der Veränderung willen. Keine Disruption des Gestern, sondern eine Weiterentwicklung des Heute. Ohne Angst vor dem Fremden, weil Unbekannten. Aufgeschlossen. Zugänglich. Und gemeinsam.
Lasst uns mit dem Mut und Glauben der vom Fliegen träumenden Raupe gemeinsam die Zukunft positiv gestalten. Lasst uns in die Höhe erheben wie die Raupe, die zum Schmetterling wurde. Und lasst uns mit einem gemeinsamen ersten Flügelschlag unsere Welt zu einem solidarischen Ort machen.
Wir benötigen fliegende Liebe. Keinen fesselnden Hass.