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Kapit(al)ulation und Andere Wege

George ist 37 Jahre alt. Er hat Geschichte studiert und träumt davon, in einem städtischen Museum zu arbeiten George ist verheiratet, hat zwei Töchter und einen wenige Monate alten Sohn. In einem winzigen Ort inmitten der Sierra Maestra arbeitet er als Guide für die lokale Tourismusbehörde. Tag für Tag führt er Touristengruppen zur „Comandancia“, jenem im Gebirge versteckten Hauptquartier, wo sich eine Handvoll Rebellen vor über 65 Jahren versteckt und die kubanische Revolution geplant und durchgeführt hat. George erhält einen monatlichen Lohn in Höhe von umgerechnet 10 Euro, unabhängig davon, ob er Interessierten den Weg zeigt oder nicht. Als vor einigen Jahren ein schwerer Wirbelsturm über die Insel zog und verheerende Schäden in der Sierra Maestra anrichtete, versuchte George sein Heim gegen diese Naturgewalten zu verteidigen. Es waren schreckliche Stunden voller Schmerzen und voller Angst. Seit jener Zeit hat George nur noch einen Arm.

Es sind Schicksale wie jenes von George, auf die man sich gefasst machen muss, wenn man heutzutage nach Kuba reist und sich abseits der Touristenmeilen für das Leben der einheimischen Bevölkerung interessiert. Jeder Kubaner, bei dem man nächtigt oder mit dem man einen Tag verbringt hat eine ganz eigene Geschichte zu erzählen, die von einem Leben in einem Land erzählt, welches wie eine Zeitreise in die Vergangenheit der 1950er Jahre anmutet. Eine Vergangenheit, die für mich als jemanden, der irgendwie in die Werbebranche eines westeuropäischen Landes abgerutscht ist, durchaus etwas romantisches hat. Denn penetrante Werbung für Produkte oder Dienstleistungen, wie sie bei uns die öffentlichen Räume in Stadt, Land und Internet rücksichtslos in Besitz genommen hat, sucht man auf Kuba vergebens. Einzig die Erinnerung an die Ideen und Protagonisten der Revolution sind allgegenwärtig und werden an jeder Straßenecken farbenreich gefeiert und damit tief im gesellschaftlichen Gedächtnis verankert. Propaganda? Durchaus!
Die Werbung als Beschleuniger unserer heutigen Zeit

Vielleicht ist daher gerade die Werbung, wie ich sie kennengelernt habe, ein Sinnbild für die völlig konträren Denkweisen dieser beiden Systeme, steht sie doch stellvertretend für den kapitalistischen Grundgedanken: Mehr! Mehr! Mehr! Egal ob es dabei um Geld, Wachstum, Effizienz oder schlichtweg um Konsum geht. Hauptsache: Mehr davon. Die Werbung hilft dabei, dieses Ziel zu verwirklichen. Es werden (zuvor meist nicht existente) Bedürfnisse geschaffen, um die Menschen zum Konsum zu bewegen (“Aktivieren” sic!).

Vielleicht bin ich ein Romantiker, womöglich sogar ein Utopist. Jedenfalls bin ich auch Realist genug, um die Schwächen und Fehler eines Systems wie jenes sozialistische in Kuba zu verstehen und die Stärken und Chancen des unsrigen, das auf den kapitalistischen Grundpfeilern aufgebaut ist, anzuerkennen. Ich bin ehrlich, wenn ich sage, dass ich wirklich froh bin hier in Europa zu leben und würde mein Leben hier nur zeitweise (für eine Reise) gegen jenes auf Kuba eintauschen. Natürlich geht es uns allen, die wir hier leben und arbeiten gut und wir führen ein Leben auf einem Niveau, wie es wohl in der bisherigen Geschichte der Menschheit seinesgleichen sucht. Und natürlich ist der Siegeszug des Kapitalismus ein ganz wesentlicher Garant hierfür. Und dennoch tut es uns gut, zwischendurch auch mal einen Moment innezuhalten und durchzuatmen und dabei darüber nachzudenken, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind und ob es tatsächlich unser Ziel ist, einfach nur weiter zu sprinten. Und zu sprinten. Und zu sprinten. Macht es uns alle als Einzelne wie auch als Kollektiv wirklich glücklich, immer nur das Ziel zu haben, erster, bester, größter, schnellster, reichster zu sein? Haben wir auf unserem Wettlauf durch die Zeit inzwischen vielleicht auch das eine oder andere wichtige (wieder) verloren, was uns langfristig und nachhaltig Energie verleihen könnte? Und ist es nicht die Pflicht von uns, denen es im Vergleich zu vielen anderen sehr gut geht insbesondere aber auch die Pflicht von jenen, welche die Macht des Kapitals in ihren Händen halten (und den Profit einfahren) einen Ausgleich zwischen den Gefällen anzustreben und die gegenwärtigen Abläufe wenn nicht gleich zu ändern, so zumindest zu hinterfragen?! Die Aussicht auf Geld und Macht (vor allem in ihrer Kombination) für Einzelne war immer schon geeignet, sich gegenüber anderen abzuschotten und diese auszuschließen. Nun ist es an der Zeit, über eine Öffnung zu diskutieren.

Der Politikwissenschaftler John Holloway hat im Juli 2014 eine wirklich interessante (Er-)“Öffnungsrede“ (siehe unten) auf dem Elevate-Festival in Graz gehalten. Darin übt er Kritik an der Macht des Kapitals und warnt vor einer weiteren „öbszönen“ Konzentration von Macht und Geld, denn „die Dynamik des Geldes ist das Zertstören der Hoffnungen und Träume der Jugend“. “Wir müssen”, so Holloway weiter “also die Hoffnung wiedererlangen. Wir müssen lernen unsere Augen und Gedanken zu öffnen und jenseits der sich schließenden Wende des Kapitalismus zu sehen.”
Ein neuer Turbo-Kapitalismus ist auf dem Weg

Lange Zeit galten das Internet im Allgemeinen und die Sozialen Medien im Besonderen als Möglichkeit, etablierte Macht- und Meinungskartelle aufzubrechen und so zu einer offenen Gesellschaft zu führen. Und sicherlich haben sich diese digitalen Medien, die in den vergangenen Jahren weltweit viel verändert haben, einen Großteil dieser Fähigkeiten bewahrt. Und doch zeichnet sich ab, dass ihnen ihr Erfolg schrittweise zum Verhängnis werden könnte. Denn monetäre und sicherheitspolitische (Stichwort: NSA) Interessen sind aktuell dabei, sich das Internet und die Sozialen Medien zunehmend einzuverleiben und vormalige Freiheiten des Netzes nach und nach den eigenen Regeln zu unterwerfen.

Bei Spiegel Online wurde kürzlich der Artikel „Uber, Airbnb & Co.: Der Fünf-Sterne-Kapitalismus“ publiziert. Als ich die Überschrift las war mein Interesse umgehend geweckt. Denn wenn ich mir die Entwicklung der digitalen Startup-Szene in den vergangenen Monaten und Jahre anschaue, dann entsteht bei mir immer mehr das Gefühl, dass es bei einem nicht unbeachtlichen Teil dieser neuen Unternehmen rund um digitale Disruption in erster Linie nicht nur um eine sozial getriebene Vereinfachung des Alltags (Träumer), sondern (neben der Auslesung unser Denk- und Nutzungsmuster) schlussendlich um eine knallharte betriebswirtschaftlich getriebene Steigerung von Effizienz geht. Ich muss ehrlich zugeben, dass sich dieses Gefühl bei mir erst so richtig durch das Gebahren von „Uber“ festgesetzt hat, die sich nicht nur über geltende Rechtsprechung hinwegsetzen, sondern auch insgesamt den Anschein machen, lediglich auf die eigene Gewinnmaximierung auszusein und für die Angestellte (im Beispiel von Uber die Fahrer) keine menschlichen Teile des Systems Unternehmen, sondern lediglich Mittel zum Zweck (Instrumente) zur Erreichung dieses Zieles sind (Sascha Lobo spricht bei diesen Startups übrigens auch vom Plattform-Kapitalismus”).

Bis dahin habe ich selbst die digitalen Innovationen und Unternehmen fast ausschließlich positiv betrachtet und mit voller Begeisterung verfolgt. Durch das Beispiel von „Uber“ allerdings und durch die bedingungslose Lobbyarbeit der dahinter stehenden beziehungsweise unterstützenden Unternehmen, hat das Ganze für mich allerdings inzwischen dazu geführt, die ganze Entwicklung zumindest etwas differenzierter zu bewerten. Natürlich bin ich nach wie vor ein überzeugter Anhänger der Digitalisierung, allerdings nehme ich für mich auch das Recht, vielmehr die Pflicht in Anspruch, einzelne Entwicklungen auch etwas kritischer zu hinterfragen und manche auch abzulehnen: Kommerzialisierung unseres alltäglichen Lebens, ein einstmals freies Netz und seine sozialen Medien als Opfer der Profitgier des Kapitals: „Uber, Airbnb & Co.: Der Turbo-Kapitalismus”?!.
Über die Logik des Schließens

Die folgenden Worte von John Holloway treffen entsprechend bei mir auch einen Nerv, weil sie auf eben jene gerade beschriebene Thematik übertragen werden können, wenngleich Holloway dies sicherlich nicht im Kopf gehabt haben dürfte, als er seine Rede schrieb:

Die Logik des Geldes ist die Logik des Schließens. Sie präsentiert sich der Welt als Freiheit, als eine öffnende Möglichkeit für alle

Tatsächlich ist es jedoch genau das Gegenteil. Es ist das Verweben jeglicher menschlicher Aktivität in ein Weltsystem, das niemand kontrolliert, das jedoch einem einfachen Gesetz folgt: Mehr, mehr, mehr Profit! Und wenn du der Herrschaft (des Geldes) nicht folgen willst, wenn du mit deinem Leben etwas anderes machen willst, dann musst du halt verrückt oder kriminell sein und solltest eingesperrt werden. Die Herrschaft des Geldes ist ein Gefängnis, gestützt von vielfältigen Linien der Schließung, die mehr und mehr gewalttätig werden. Geld ist Kapital und es kann nicht stillstehen. Die Herrschaft des Kapitals ist „schneller, schneller, schneller“ und die Herrschaft des „schneller, schneller, schneller“ bedeutet „aus dem Weg mit den Menschen die zu langsam sind, mit den Menschen, die die Sachen aufhalten“.

Die (Andere) Bewegung der Zapatisten

Holloway hat vor zehn Jahren das Buch „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ veröffentlicht und steht der Zapatistischen Bewegung in Mexiko nahe. Kern dieser Bewegung ist die „Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung“ (EZLN), die am 01. Januar 1994 zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung getreten ist, als sie fünf Städte im mexikanischen Bundesstaat Chiapas besetzten. Nach wenigen Tagen Kampf legte die EZLN ihre Waffen nieder und konzentrierte sich in den darauffolgenden 20 Jahren auf den Aufbau eines
alternativen Bildungs- und Gesundheitssystems für die (größtenteils maya-stämmige) indigene Bevölkerung. Als Sprecher der EZLN agierte bis 2014 Subcomandante Insurgente Marcos, der die Kritik am politischen System, welches die Ärmeren Menschen im Allgemeinen und die indigenen Gruppen im Speziellen, stark benachteiligte in anschaubare und emotionale Geschichten (vom “Alten Antonio”) verpackte (siehe unten). Er orientierte sich dabei stark an den fabelhaften Bildern und Erzählformen, wie sie die Mayas seit Jahrtausenden nutzen. Die EZLN kämpfte in der Folge also nicht mehr mit Pistolen und Gewehren, sondern mit der Waffe der Poesi und Marcos wurde nicht nur zu einem der spannendsten Literaten des südamerikanischen Kontinents, sondern auch zu einer Art Mittler und Übersetzer zwischen den Maya-Nachfahren, den Rebellen sowie der interessierten Öffentlichkeit. Dabei halten sich die Zapatisten bewusst aus dem bestehenden politischen System in Mexiko heraus (“La Otra Campaña”, “Die Andere Kampagne”), ganz getreu dem Titel jenes Buches von John Holloway.

Die EZLN gründete sich bereits im November 1983 und formierte sich im Verborgenen. Dass sie am 01. Januar 1994 wie aus dem Nichts aus dem Lakandonischen Urwald an die mexikanische Öffentlichkeit ging hatte allerdings einen ganz besonderen Grund: An jenem Tag nämlich trat das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA in Kraft, welches eine Freihandelszone zwischen Kanada, den USA und Mexiko schaffte. NAFTA sollte die Wirtschaft der beteiligten Staaten stärken, wurde von den Rebellen allerdings als weiterer Versuch der USA gewertet, den südlichen Teil des amerikanischen Kontinents zugunsten der eigenen kapitalistischen Interessen auszuschlachten – auf Kosten der ärmlichen Bevölkerung im Allgemeinen, sowie der indigenen Gruppen im Speziellen.
Der Lauf einer globalisierten Welt

Heute, fast 21 Jahre später stehen wir erneut von dem Zustandekommen gleich zweier großer Freihandelsabkommen: Auf der einen Seite die USA (TTIP) und Kanada (CETA) sowie auf der anderen Seite jeweils die Europäische Union (einschließlich Deutschland). Es entstünde der größte Wirtschaftsraum der Welt. Und so sehr dies wirtschaftlich große Chance für die beteiligten Länder (bzw. das dort sitzende Kapital) bedeuten würde, so sehr dürften andere, ohnehin schon rückständige Nationen wirtschaftlich weiter isoliert und abgehängt werden. Zudem steht die Befürchtung im Raum, die weltweite Macht von Konzernen – und damit des Kapitals – insbesondere nach US-amerikanischen Interessen auszubauen und sie teilweise auch über geltende Rechtsprechung anderer Staaten zu heben (Stichwort: Schiedsgerichte).

Dass in Deutschland nicht nur ein Wirtschaftsminister aus den Reihen der SPD, sondern gleichzeitig auch deren Vorsitzender für die wahrscheinliche Durchsetzung beider Freihandelsabkommen mit verantwortlich zeigt, mutet ehrlich gesagt etwas irritierend an. Schließlich hat die Partei – wenngleich auch nach endlosen Diskussionen (
Olaf Scholz, 2003: „Es gibt keinen Zustand mit diesem Namen, der auf unsere marktwirtschaftlich geprägte Demokratie folgen wird. Deshalb sollten wir nicht solche Illusionen erzeugen.“) in ihrem „Hamburger Programm“ 2007 festgeschrieben:

Unsere Geschichte ist geprägt von der Idee des demokratischen Sozialismus, einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, in der unsere Grundwerte verwirklicht sind. Sie verlangt eine Ordnung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, in der die bürgerlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte für alle Menschen garantiert sind, alle Menschen ein Leben ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt, also in sozialer und menschlicher Sicherheit führen können. Das Ende des Staatssozialismus sowjetischer Prägung hat die Idee des demokratischen Sozialismus nicht widerlegt, sondern die Orientierung der Sozialdemokratie an Grundwerten eindrucksvoll bestätigt. Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist. Das Prinzip unseres Handelns ist die soziale Demokratie.“

Man mag den Protagonisten der Kubanischen Revolution rund um Camilo Cienfuegos (der Mann des Volkes, am wenigsten), Ernesto Ché Guevara (der Visionär, mehr) und insbesondere Fidel Castro (der Anführer, am meisten) sicherlich vieles zu Recht vorwerfen, eines jedoch nicht: Dass sie zugunsten der Macht des Kapitals ihre eigenen Ideen und Ideale verraten haben. Stattdessen haben sie einst für die Durchsetzung ihrer ursprünglich sehr sozialen Überzeugungen gekämpft und die meisten haben dafür gar mit ihrem Leben bezahlt. Von den hiesigen Politikern ist ein ähnliches Einstehen für Ideale und Visionen wohl kaum zu erwarten. Die Erfahrung (nicht nur, aber insbesondere) mit den deutschen Christdemokraten (Roland Koch, Eckart von Klaeden, Ronald Pofalla u.a.) und den Liberalen (Dirk Niebel u.a.) in den zurückliegenden Jahren etwa lehrt, dass es kaum verwunderbar wäre, sollte der eine oder Andere, der heute noch auf Seiten der politischen Macht “im Namen des Volkes” für die Durchsetzung der Freihandelsabkommen kämpft in Zukunft die politische gegen die monetäre Macht einzutauschen bereit wäre.

Zugegeben, als in der Regierungsverantwortung stehende Partei eines Landes wie Deutschland ist es nicht immer ganz einfach. Die Verpflichtung der hiesigen Wirtschaft und vor allem der Menschen gegenüber muss zwangsweise auch eigene Ideale hinten anstehen lassen (Stichwort: Agenda 2010). Solange es zur Sicherung des Wohlstands jedes Einzelnen führt, wird man sich im Recht sehen. Dennoch, den Demokratischen Sozialismus mit seinen sozialen Ideen als gesellschaftliches Ziel zu formulieren und sich gleichzeitig dem neoliberalen Diktat des internationalen Kapitals zu unterwerfen ist ein mutiger Spagat.

Manche werfen den Zapatisten der EZLN vor, dass sie sich aus der Verantwortung stehlen, weil sie sich gerade nicht ins politische System stürzen und um politische Ämter bemühen. Andere bewundern sie dafür, dass sie außerparlamentarisch für die Umsetzung ihrer Ideen bemühen ohne diese im durch Machtkämpfe geprägten politischen Alltag zu verwässern. Die einen so, die anderen so. Es bleibt jedem selbst überlassen, zu entscheiden, welcher dieser beiden Wege der aufrichtigere ist.
Kubanische Träume, kubanische Chancen

Solche (Luxus-) Diskussionen wie sie aktuell in Europa (und auch durch mich) geführt werden sind für ein vergleichsweise rückständiges Land wie Kuba derzeit noch ferne Fiktion. Kuba befindet sich aktuell wirtschaftlich noch irgendwo in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Während etwa das Internet in unseren Sphären zeitlich und vor allem räumlich allgegenwärtig ist, muss man dieses auf der Karibik-Insel schon ausgiebig suchen, um es beispielsweise in einem der städtischen Telepuntos zu finden. Statt Uber prägen die örtlichen Bici-Fahrer und Oldtimer-Taxen das Straßen-, statt AirBNB die privaten Casa Particulares das Tourismus-Bild. Doch wenn in absehbarer Zeit mit Raul und Fidel Castro die Köpfe der Revolution Geschichte sein werden, wird es über kurz oder lang nicht nur zu Veränderungen, sondern mittelfristig auch einer Öffnung und langfristig zu einem Anschluss an die westliche restliche Welt kommen.

Und doch bleibt zu hoffen, dass Kuba dann nicht komplett in die Zwänge und Mühlen des globalen Kapitalismus stürzt. Zu groß – womöglich gar einzigartig – ist die Chance von dem aktuellen Status ausgehend mit einer sukszessiven Öffnung sozialistische Ideale und kapitalistische Chancen auf gesunde (und demokratische) Weise miteinander zu verheiraten. Manche philosophieren über den Zustand der heutigen Welt, wenn in den vergangenen 65 die eine oder andere Entscheidung anders gefallen wäre, Kuba hat eben jene einzigartige Chance, es besser zu machen. Es geht nicht darum, den Kapitalismus zu stoppen, sondern darum, ihn auf eine gesunde und faire Weise zu entwickeln – laufend und immerzu. Und wieso nicht mit einem ausgeprägten sozialem Herzen als Taktgeber? “Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche” (Ché).

Dies hofft auch George, der ein guter Mensch ist und ein liebevoller Familienvater zugleich. Er hat einen kleinen Garten, wo er selbst Obst und Gemüse anbaut und um den er sich in jeder freien Minute kümmert. Er besitzt vier Schweine und ein halbes Dutzend Hennen. Wenn George ein Tier schlachtet oder die Eier einsammelt, dann verteilt er einen Teil des Fleisches und der Eier an die Nachbarn. Gleichzeitig erhält er auch Nahrungsmittel von den Nachbarn, wenn diese ihre Ernte einfahren. Es wird viel untereinander gegeben und viel füreinander eingestanden. Auf diese Weise gibt es die meiste Zeit des Jahres genug zu essen.

Es ist ein einfaches und oft auch beschwerliches Leben, welches George zusammen mit seiner Familie in den Bergen führt. Und dennoch, wenn George von seinen Wanderungen in den Bergen zu seiner Familie zurückkehrt und seine Kinder ihrem Vater begeistert um den Hals fallen, geht sein Herz auf. George, so beteuert er glaubhaft, ist ein glücklicher Mensch. Er wünscht sich für seine Kinder, dass sie später die Möglichkeit haben werden ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen und dass sie um die Welt reisen können. Aber er hofft auch, dass sie die Werte des sozialen Miteinanders und das selbstverständliche Teilen und Einstehen füreinander dabei nicht vergessen, sondern nachhaltig bewahren. Ein soziales Miteinander, das in dieser Form im kapitalistischen System nicht an erster Stelle priorisiert ist. George wünscht sich, dass seine Kinder ihren eigenen Weg nach vorne gehen, dabei aber nicht vergessen, welchen Weg sie bisher gemeinsam mit den anderen gegangen sind. Dass sie das Gemeinschaftliche bewahren.

Nur durch Gehen finden wir den Weg

Und vielleicht geht es auch für uns in der Tat genau darum: Zurückzuschauen und zu sehen, welchen Weg wir bisher zusammen gegangen sind und ab und wann auch einmal innezuhalten und zu hinterfragen, ob dieser Weg, der uns hierher geführt hat und daher sicherlich nicht falsch war, auch in Zukunft geeignet ist, uns zu leiten und voranzubringen. Es ist nämlich niemals falsch, geschweige denn zu spät, einen neuen Weg einzuschlagen und sich damit auch neuen Abenteuern und neuen Erfahrungen zu öffnen, die uns nicht nur an ein bestimmtes Ziel bringen, sondern auch persönlich weiter prägen und stärken. Denn wahrlich langweilig wäre jener Weg, wenn er stets schnurgerade an ein vordefiniertes Ziel führen und dabei immer überschaubar wäre.

Und so schrieb auch einst vor 20 Jahren im Lakandonischen Urwald von Mexiko Subcomandante Marcos in einer seiner Geschichten vom Alten Antonio:

Zuerst verirrten wir uns. Als wir das bemerkten, waren wir schon inmitten der Selca, inmitten des Regens, umzingelt von der Nacht. „Wir haben uns verirrt“ sagte ich überflüssigerweise. „Nun ja“, sagte der Alte Antonio, der nicht sehr besorgt scheint und sich überall wohl fühlt, wo seine Hand das Streichholz entzündet, während die andere die Zigarette ansteckt. „Wir müssen den Weg zurück finden“, höre ich mich sagen und füge hinzu: „Ich habe einen Kompass“ – und zwar so, als wenn ich sagen würde: „Ich habe ein Auto, falls du eine Mitfahrgelegenheit brauchst.“ „Nun gut“, sagt abermals der Alte Antonio, signalisierend, dass er mir die Initiative überlassen will und bereit ist, mir zu folgen.

Ich nehme die Herausforderung an und bin bereit, meine Guerilliero-Kenntnisse aus zwei Jahren Selva-Erfahrung vorzuführen. Zunächst suche ich Schutz unter einem Baum. Ich hole die Landkarte raus, den Höhenmesser und den Kompass. Als wenn ich nur laut vor mich hinreden würde, in Wirklichkeit aber, um vor dem Alten Antonio anzugeben, beschreibe ich Höhen über dem Meeresspiegel, topographische Linien, Luftdruck, Breitengrade und andere Eceteras dessen, was die Militärs „Landnavigation“ nennen. Der Alte Antonio sagt nichts, er verharrt an meiner Seite, ohne sich zu rühren. Ich vermute, dass er mir zuhört, denn er raucht weiter. Nach einer Weile technischer und wissenschaftlicher Angeberei stehe ich mit dem Kompass in der Hand auf, zeige in einen Winkel der Nacht und gehe los. „Dort entlang geht es.“

Ich erwarte, dass der Alte Antonio sein „Nun ja“ wiederholt, aber der Alte Antonio sagt nichts. Er greift nach seinem Gewehr, seiner Umhängetasche und seiner Machete und geht hinter mir her. Wir gehen eine ganze Weile, ohne irgendeinen uns bekannten Ort zu finden. Ich schäme mich angesichts des Fehlschlags meiner modernen Technik und wilm mich nicht zu ihm umdrehen, der mir ohne ein Wort folgt. Nach einer weiteren Weile stehen wir vor einem Felsen, der uns wie eine Wand am Weitergehen hindert. Die letzten Reste meines Stolzes stieben auseinander, als ich sage: „Und nun?“

Jetzt erst spricht der Alte Antonio wieder. Zunächst räuspert er sich ein wenig und spuckt einige Tabakkrümel aus, danach höre ich hinter mir: „Wenn du nicht weißt, was kommt, hilft es viel, nach hinten zu schauen.“ Ich nehme ihn beim Wort und drehe mich um, nicht um in die Richtung zu schauen, aus der wir gekommen sind, sondern um mit einer Mischung aus Scham, inständiger Bitte und Furcht den Alten Antonio anzusehen.

Der Alte Antonio sagt nichts, schaut mich an und versteht. Er zieht seine Machete und schlägt, einen Weg durch das Unterholz bahnend, eine neue Richtung ein. „Hier geht es lang?“ frage ich überflüssigerweise. „Nun ja“ sagt der Alte Antonio, während er Schlingpflanzen und die feuchte Nachtluft durchtrennt. Nach wenigen Minuten sind wir erneut auf dem Hauptweg, und die Blitze lassen die Silhouette seines Dorfes erkennen.

Durchnässt und müde kam ich in der Hütte des Alten Antonio an. Doña Juanita bereitete Kaffee zu, und wir näherten uns dem Lagerfeuer. Der Alte Antonio zog sich das nasse Hemd aus und hing es zum Trocknen an eine Seite des Feuers. Danach setzte er sich in einer Ecke auf den Boden und bot mir das Bänkchen an. Ich lehne zuerst ab, teils weil ich nicht vom Feuer weg wollte, teils weil ich mich immer noch über die Angeberei mit Karte, Kompass und Höhenmesser schämte. Wie auch immer, schließlich setzte ich mich. Beide begannen wir zu rauchen. Ich unterbrach das Schweigen und fragte ihn, wie er den Rückweg gefunden habe.

„Ich habe ihn nicht gefunden“, antwortete der Alte Antonio. „Er war nicht da. Ich habe ihn nicht gefunden. Ich habe ihn gemacht. Wie man es eben macht. Indem man geht. Du dachtest, der Weg sei irgendwo und deine Geräte würden uns anzeigen, wo er sei. Aber so ist es nicht. Dann dachtest du, ich wüsste wo der Weg sei, und bist mir gefolgt. Aber so ist es nicht. Ich wusste nicht, wo der Weg ist. Ich wusste nur, wir müsste gemeinsam den Weg machen. Das taten wir. So sind wir dahin gekommen, wohin wir wollten. Wir haben den Weg gemacht. Er war nicht da.“ „Aber warum sagtest du, dass wenn jemand nicht weiß, was kommt, er nach hinten schauen solle? Nicht deswegen, um den Weg zurück zu finden?“, frage ich.

„Nein“, antwortete der Alte Antonio. „Nicht um den Weg zu finden. Um zu schauen, wo du vorher warst, was passiert ist und was du wolltest.“ „Wie bitte?“ frage ich schon ohne Scham. „Nun ja. Indem du zurückschaust, merkst du, wo du bist. Oder anders gesagt, du kannst den Weg sehen, den du irrtümlicherweise zurückgelegt hast. Indem du zurückschaust, merkst du, dass das, was du wolltest, den Weg zurück zu finden war, und das war es, was du sagtest, dass wir den Weg zurück finden müssten. Und hier liegt das Problem. Du hast dich auf die Suche nach einem Weg gemacht, den es nicht gibt. Er musste gemacht werden.“ Der Alte Antonio lächelte zufrieden.

„Aber warum sagst du dauernd, dass wir den Weg gemacht hätten? Du hast ihn gemacht, ich bin nur hinter dir hergegangen“ sagte ich ein wenig unbehaglich. „Nein“, sagte der Alte Antonio weiter lächelnd. Ich habe ihn nicht allein gemacht. Du hast dazu beigetragen, denn ein ganzes Stück bist du vorangegangen.“ „Ah! Aber dieser Weg war falsch gewesen“, unterbrach ich ihn. „Nun ja. Er war nützlich, weil er falsch war. So wussten wir, dass wir ihn nicht erneut zu gehen brauchten, oder anders gesagt, er führte uns wohin, wohin wir nicht wollten, und so konnten wir einen anderen Weg wählen, der uns dorthin brachte, wohin wir wollten“, sagte der Alte Antonio.

Ich schaute ihn eine ganze Weile an und wagte mich dann weiter vor: „Du wusstest also auch nicht, ob der Weg, den du eingeschlagen hast, uns hierherbringen würde?“ „Nein, nur durch Gehen kommst du an. Mit Arbeit, kämpfend. Das ist dasselbe.

Nun denn: “Wir müssen die Welt nicht erobern. Es reicht sie neu zu schaffen. Heute. Durch uns!” (Sub Marcos)

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