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Migration – Facetten und Perspektiven

Über Jahrzehnte hinweg war Hamburg sowas wie das Tor zu einer neuen Welt. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts setzten sich Millionen von Menschen auf dem ganzen europäischen Kontinent in Bewegung, wagten sich auf schweren Schiffen über den großen Ozean und stürzten sich in ein unüberschaubares Abenteuer. Es waren Auswanderer*innen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen dazu entschlossen, ihre Heimat zu verlassen und in der Ferne einen Neuanfang zu wagen – getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben und eine positivere Zukunft. Es waren Menschen aller Klassen und Schichten, die sich aufmachten, einen Kontinent zu besiedeln und ein neues Zuhause zu gestalten. Unter ihnen waren politisch und religiös Verfolgte, Hungerleidende, Träumer und Menschen, die heute wohl mit dem Begriff der “Wirtschaftsflüchtlinge” beschrieben werden.
Auswandererbewegung als Goldrausch

In Hamburg entstanden zu dieser Zeit große Massenunterkünfte, in denen die unzähligen Emigranten die letzten Wochen und Tage verbrachten, bevor sie einen Platz auf einem der großen Schiffe zugeteilt bekamen. Der Hamburger Reeder Albert Ballin, Generaldirektor der Hamburg-Amerikanische-Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG), wurde zum Koordinator und einem der wichtigsten Vordenker der damaligen Auswandererbewegung. Das Hamburger “BallinStadt”-Museum widmet sich dieser Thematik und erzählt die Geschichte der Reederei im Speziellen sowie der damaligen Auswandererbewegung im Allgemeinen. Ein Besuch sollte nicht nur für jede in Hamburg ansässige oder die Stadt besuchende Schulklasse Pflicht sein, sondern lohnt sich auch für grundsätzlich Jede und Jeden. Umso mehr, da das Thema Migration aktuell eine besonders hohe Aufmerksamkeit in unserer medienpolitischen Öffentlichkeit zuteil wird. Das Museum hilft dabei, die verschiedenen Facetten von Migrationsbewegungen besser zu greifen und das Thema historisch und perspektivisch einordnen zu können.

Denn auch, wenn es uns so vorkommen mag, so ist Migration kein neuzeitliches Phänomen, sondern war immer schon existent. Egal, ob wir Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende zurückgehen, immer schon haben die unterschiedlichsten Ursachen dazu geführt, dass sich Menschen als Einzelpersonen oder in Gruppen dazu entschlossen, ihre vertraute Umgebung aufzugeben und in der Ferne nach einem neuen Zuhause zu suchen.

Die Geschichte Amerikas ist nicht das erste, aber vielleicht das bekannteste und nachvollziehbarste Beispiel. Daher ist es auch spannend zu sehen, wie sich das BallinStadt-Museum mit den Beweggründen der amerikanischen Immigrant*innen auseinandersetzt. Vergleicht man sie mit den Motiven von heute in Europa Einwandernden, dann finden sich nicht nur Ähnlichkeiten, sondern könnten die Zitate beliebig untereinander ausgetauscht werden – sie decken sich weitestgehend.

Man fragt sich daher zwangsläufig, wieso heute Menschen jenes Recht verwehrt werden soll, welches unseren Vorfahren (und wir alle finden in unseren Stammbäumen Einwanderer- und Auswanderergeschichten) selbstverständlich zugestanden hat? Mehr noch, nahmen unsere europäischen Vorfahr*innen für sich in Anspruch andere Kontinente nicht nur zu besiedeln, sondern zu kolonialisieren, ihre Einwohner*innen nicht nur kennenzulernen, sondern sie zu unterwerfen, zu versklaven und (nicht selten nahezu) auszurotten. Diese Beweggründe hegen heutige Einwanderer*innen nach Europa nicht – auch wenn rechtsextrem-rassistisch-islamophobe Verschwörungstheoretiker*innen dies immer wieder einzureden versuchen. Stattdessen geht es um Integration und die gemeinsame Weiterentwicklung unserer Gesellschaft, die von neuen Impulsen durchaus nachträglich profitieren kann.
Binnenmigration

Inspirierend ist auch die Frage, wo Migration eigentlich anfängt und wo sie aufhört. Mein eigener Lebenslauf ist ein gutes Beispiel: Mein Großvater stammt aus der Nähe von Breslau, dem heutigen Polen; der größte Teil meiner Verwandtschaft lebt allerdings seit Jahrzehnten in Rheinland-Pfalz; nachdem meine Eltern aufgrund des Studiums meines Vaters auszogen, wurde ich in Hessen geboren; mein Bruder kam in Bayern zur Welt, meine Schwester in Baden-Württemberg, wo ich dann auch zur Schule ging; später zog ich selber aus und lebte während meines Studiums mehrere Jahre in Thüringen, nur um inzwischen seit bald einem Jahrzehnt meinen Lebensmittelpunkt in Berlin zu haben. Meine Schwester lebt inzwischen in Köln, mein Bruder in Hamburg. Für (fast) alle diese Umzüge waren finanzielle und berufliche Gründe ausschlaggebend.

Ich selbst komme damit auf über Tausend Kilometer, die ich im Verlauf meines bisherigen Lebens gewandert bin. Und dennoch gelte ich gemeinhin nicht als Migrant, während Menschen, die ihren Wohnort manchmal nur um wenige Kilometer verschieben, dabei aber eine für das menschliche Auge nicht sichtbare (und historisch gesehen erst kurze Zeit bestehende) Linie überschreiten, als solche eingeordnet werden. Macht das Sinn? Kulturräume und Sprache als einzige Eigenschaft heranzuziehen reicht meiner Meinung nicht aus. Während der kulturelle und sprachliche Unterschied zwischen Bewohner*innen von Berlin-Kreuzberg und dem 670 Kilometer entfernten bayerischen Oberammergau immens ist, so offensichtlich sind die Ähnlichkeiten zwischen den Einwohner*innen von Oberammergau und dem 26 Kilometer entfernten österreichischen Ammerwald. Und dennoch würde ein*e nach Berlin emigrierender Oberammergauer*in nicht als Migrant*in gesehen, während er es bei einem Umzug nach Ammerwald offiziell sehr wohl wäre.

Ebenso spannend ist es, wenn man einen Blick in die Zukunft wirft. Auch wenn wir gerade ein letztes Aufbäumen die Rückbesinnung auf Nationalismus Nationalstaaten zu erleben scheinen – die selbst oftmals erst wenige Jahrzehnte und nur selten länger als zwei Jahrhunderte bestehen – so denke ich, dass dieses Konstrukt ein Auslaufmodell ist. Unabhängig davon, ob sich die Europäische Union tatsächlich dauerhaft halten sollte, deutet sie zumindest eine Entwicklungsrichtung an, in der die Instanz der Nationalstaaten rückläufig sein wird. Umso relevanter düfte dabei gleichzeitig eine viel kleinere Einheit werden: Städte.
Stadtentwicklung

Schon heute gibt es nicht wenige Städte, die mehr Einwohner haben als viele Länder. Mit 36 Millionen leben heute etwa mehr Menschen in der Metropolregion Tokio, als in ganz Polen – immerhin das sechsgrößte Land der EU. Dieser Trend wird in Zukunft weiter anhalten. Städte werden nicht nur größer, sondern auch wichtiger und einflussreicher. Die Grenzen von dem, was als Migration gilt, dürfte im urbanen Raum stärker verschwimmen. Bereits heute offenbaren sich manchmal signifikantere Unterschiede zwischen städtischen (z.B. Berlin) und nichtstädtischen (z.B. Dorf in Brandenburg) Bewohner*innen eines Landes (z.B. Deutschland) als zwischen Stadtbewohner*innen (z.B. Berlin) und Zugezogenen aus Metropolen anderer Länder (z.B. Sydney). Und nicht selten läuft die individuelle Identifikationsstiftung heute bereits stärker über Städte (“Ich bin Berliner”) oder Kontinente (“Ich bin Europäer”), als über Nationalstaaten (“Ich bin Deutscher”).

Der Erfolg von Städten – ganz gleich welcher Größe – liegt auch in ihrer Dynamik und Flexibilität. Ihre Anpassungsfähigkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber kulturellen, strukturellen und technischen Veränderungen unterscheidet sie – und ihre Bewohner*innen – von ländlichen Regionen. Eigenschaften, die auch vom Zuzug und Austausch interkultureller Ideen gefördert wird. Immerhin schaffen Nähe und Begegnung – ob mit Menschen oder Innovationen – Akzeptanz und bauen Hemmnisse ab.
Spaltung zwischen Stadt und Land

Es kommt nicht von ungefähr, dass sich die Wahlergebnisse von ländlichen und urbanen Regionen innerhalb eines Landes weltweit oftmals signifikant unterscheiden. Ganz gleich, ob wir in die USA blicken, nach Österreich oder nach Deutschland, offene und zukunftsgewandte Politik findet sich tendenziell stärker in Städten, während das Land nicht selten rückwärtsgewandte, abgeschottete und die Vergangenheit bewahrende Konzepte präferiert und Ängste schürt.

Womöglich wird sich aber auch dies mittelfristig stärker angleichen, wenn Menschen vom Land berufsbedingt noch häufiger in die Stadt wandern und Städter aufgrund der zunehmenden Wohnungsknappheit ihr Zuhause in die nahen ländlichen Gebiete verlagern. Dann findet nicht nur eine Begegnung, sondern auch ein stärkerer Austausch von Gedanken, Ideen, Kulturen und Konzepten statt, von der am Ende alle Seiten profitieren können. Denn auch Dörfer und ländliche Regionen besitzen über die Zeit entwickelte Konzepte, die es nicht nur zu bewahren, sondern auch in den urbanen Raum zu transferieren lohnt.
Vom Andocken und Integrieren

Digitale Innovationen werden diese Prozesse beschleunigen, neue Kommunikationsmedien sie begleiten, moderne Mobilitätskonzepte sie bewegen und Unsicherheiten sie durchgängig flankieren. Kurzum, die Digitalisierung wird zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, die durch Abschottung, fehlenden Umgang und mangelnde Interkultur- (und Medien-) Kompetenz (Stichwort: Filterblasen) nicht nur global verbindet, sondern zeitgleich auch zu Vereinsamung und zur regionalen Spaltung führen kann. Wichtig ist es daher, übergreifend zu integrieren und eine gesellschaftliche Inklusion zu gewährleisten, die verängstigte Verbarikadierung ebenso auflöst, wie das Abschotten der (digitalen) Eliten. Dies kann letztlich allerdings nicht nur durch dauerhafte interkulturelle Kompetenzvermittlung, sondern insbesondere durch (persönliche) Nähe, Perspektivwechsel und Begegnung erreicht werden, in der gegenseitige Empathie aufgebaut und nachhaltiges Verständnis geschaffen wird.

Vor 100 Jahren waren es einige ausgewählte Städte wie etwa Hamburg, die insbesondere aufgrund ihrer geografischen Lage als Tor zu einer neuen Welt fungierten. Sie bewegten und verbanden Menschen über große Entfernung miteinander. Heute spielen geografische Lagen eine weniger wichtige Rolle, als die Vernetzung über Grenzen hinweg sowie die Offenheit und Integration (bisher) unbekannter Kulturen und Konzepte. Somit werden Städte in Zukunft zu Portalen nicht nur einer neuen Welt, sondern auch einer neuen Zeit. Portale mit offenen nicht-virtuellen Schnittstellen (APIs), an denen Einheimische wie Zugewanderte – ganz gleich welcher Kultur, Klasse, Bildung, Religion oder Prägung – gleichermaßen andocken und ihre Ideen und Impulse zur Weiterentwicklung und Ergänzung des gesellschaftlichen Ganzen einbringen können.

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