In den alten Traditionen und Legenden der Inka spielen drei Tiere eine ganz wesentliche Rolle: Die Schlange, die für Wissen und Weisheit steht und die Unterwelt vertritt; der Puma, der Stärke und Energie symbolisiert und für die Menschenwelt, das Hier und Jetzt steht; und der Kondor, der als Zeichen von Frieden und Gerechtigkeit gesehen wird und die Oberwelt symbolisiert.
Der Kondor (1,2m groß und eine Flügelspannweite von bis zu 3m) legt sich in den frühen Morgenstunden, wenn die Sonne mit ihren ersten Strahlen des Tages die Luft erwärmt in die zirkulierenden Winde der Schluchten und Canyons, um sich ohne einen einzigen Flügelschlag wie in einem Aufzug nach oben heben zu lassen. Ist ihm dies gelungen, gibt sich der Kondor dem Wind hin und lässt sich von ihm in die Ferne tragen.
Auf diese Weise schwebt der Kondor durch die Lüfte und lässt sich in ferne Länder und Kontinente entführen. So ungebunden der freiheitsliebende Kondor auch ist, in einem ist er hoffnungsloser Romantiker: In der Liebe! Hat er einmal eine Gefährtin oder einen Gefährten gefunden, dann gibt sich der Kondor dieser Gefährtin voll und ganz hin. Bis dass der Tod sie scheidet.
In dem Moment, in dem der Kondor seine Lebensgefährtin oder seinen Lebensgefährten verliert, bricht das eigene Herz. Dann legt er sich ein letztes mal in die wiegenden des Windes, lässt sich ein letztes mal zirkulierend wie in einem Aufzug in die Höhe tragen. Ein letzter Blick über den Horizont, ein letzter Atemzug, ein letzter Wimpernschlag. Und dann geht es im ungebremsten Sturzflug in die Tiefe. Meter für Meter. Sekunde um Sekunde. Bis der Boden der Erde den Liebeskranken von seinen Schmerzen erlöst, sein Herz zersplittert und es auf diese Weise mit dem Herz der verlorenen Liebe vereint.
Nach einem Trekking-Tag durch den Colca Canyon in Peru und bevor es am nächsten Morgen um 04:30 Uhr in einem horrenden Tempo 1.200 Meter in die Höhe geht, sitzen vier Männer mit einem kühlen Bier in der Hand im Tal des Canyons und unterhalten sich über das Leben und die Liebe. Schnell stellt sich heraus, dass drei der vier Männer im sich dem Ende zuneigenden Jahr, von ihren langjährigen Lebensgefährtinnen verlassen wurden. Anders als der Kondor jedoch entschieden sich diese drei Männer völlig unabhängig voneinander gegen den Sturzflug und dafür, sich in dieser Situation in den Wind zu legen, um sich von diesem in die Ferne tragen zu lassen. Nun sitzten sie hier, durch Zufall (oder das Universum) für Momente zusammengebracht und stoßen an auf den neuen Lebensabschnitt, der mit dieser Reise für sie begonnen hat und der neue Lebensgefährtinnen für sie bereithält.
Da meldet sich der vierte Mann zu Wort: „Jungs, Jan (in Südamerika: „Tschan“), mein Sohn: Bewahrt euch diese Freiheit und diese Unabhängigkeit, wie ihr sie gerade lebt. Reist solange ihr könnt und saugt alles in euch auf. Nutzt die Gelegenheit, euch von den Zwängen Zuhause freizumachen. Lebt!“
Der Mann, der diese weisen Worte sprach war zwei Wochen lang mein Reisegefährte. Gemeinsam sind wir quer durch Peru gereist, mit Nachtbussen, Taxis, Collectivos, alten Schiffen; Wir haben mehrtägige Trekkingtouren unternommen, unzählige Kilometer und tausende Höhenmeter zurückgelegt und höllische Aufstiege in den frühen Morgenstunden gemeistert; wir haben in einer Gastfamilie auf dem Titicacasee gelebt, haben in Hostels und Mehrbett-Dorms übernachtet und temporäre Reisefreundschaften mit anderen Backpackern und Einheimischen geschlossen. Und wir haben uns unseren gemeinsamen Lebenstraum erfüllt: Die Erklimmung von Machu Picchu!
Dieser Reisegefährte ist mein Vater. 64 Jahre, drei Kinder, zwei Enkel und seit fast 50 Jahren mit meiner Mutter liiert. Gemeinsam hat er sich mit mir wie ein Kondor in den Wind gelegt, ist mit mir aufgestiegen, hat sich in die Ferne tragen gelassen und über den Horizont gesehen.
Dies ist meine Form „Danke“ zu sagen! Es war eine tolle Zeit und ich habe riesen Respekt davor, dass mein Dad jede noch so harte Tour bis zum Ende durchgezogen hat.
Gerne werde ich den Rat des Weisen befolgen und mich auch künftig in den Wind der Veränderung legen und mich von diesem (ent-?)führen lassen. Denn er ist es, der unseren Horizont weitet und uns letztlich menschlich und charakterlich wachsen und innerlich kräftigen lässt. Es gibt auch für Kondore, deren Herz auf die übelste Weise in 1000 Fetzen gesprengt wurde, eine Zukunft. Oben. Im Wind. Im Leben.
Weisheit, Gerechtigkeit, Stärke. Unten, Oben, hier und jetzt.
„Verharre nicht hier und träume vom Dort. Sei frei wie ein Vogel, der Wind trägt dich fort.“