Ziemlich genau ein Jahr ist es nun her, dass ich für mich eine ganz wichtige Antwort gefunden habe. Nämlich jene auf die imaginäre Frage meiner zukünftigen Enkelin: „Du Opa, was hast du eigentlich damals getan, als die Demokratie zu Beginn des 21. Jahrhunderts am Scheideweg stand; als Rassisten und Rechtsextremisten, aber auch extreme Neoliberalisten und rücksichtslose Plattformkapitalisten mit ihren gefährlichen Ideologien die weltweiten Gesellschaften zum Wanken brachten?!“
Ich wollte nicht dieser verbitterte alte Mann sein, der verdruckt die Schultern heben und mit einer kleinen Träne im Auge, den Blick von seiner Enkelin abwendend, „Nichts“ hauchen müsste. Daher entschloss ich einen für mich ganz wesentlichen Schritt zu gehen: Ich wurde Mitglied in einer Partei.
Es war nicht so, dass dieser Gedanke letztes Jahr das erste Mal aufgekommen war. Gesellschaftspolitisch hoch interessiert, stand ich schon zwei Mal vor der Frage, ob ich mich nicht einer politischen Partei anschließen sollte. Das erste Mal war ich knapp 16 Jahre alt und hatte den Aufnahmeantrag der Jusos bereits ausgefüllt in meinem Jugendzimmer liegen. Wieso ich ihn nicht abgegeben habe? Ganz ehrlich: Keine Ahnung. Das zweite Mal war ich Anfang Zwanzig. Ich leistete meinen Zivildienst im städtischen Jugendhaus und einer Fördervorschule, als ich das zugehörige Gebäude mit selbstgebastelten Transparenten in eine Litfaßsäule gegen den Irak-Krieg verwandelte. Meine Vorgesetzten mussten im CDU-dominierten Gemeinderat vorstellig werden und weil meine Chefin gleichzeitig bei den Grünen politisch aktiv war, versuchte sie meinen Ausdruckseifer für die entsprechende Partei zu gewinnen.
Allerdings entdeckte ich seinerzeit auch die Zapatistische Bewegung in Mexiko für mich, eine außerparlamentarische Bewegung, die sich ganz bewusst dafür entschied, sich nicht in die Fesseln des politischen Systems zu begeben, sondern stattdessen in der Gesellschaft mit den Menschen zusammen tatsächliche Lösungen zu entwickeln und auch umzusetzen. Ich war fasziniert (und bin es auch heute noch) von dieser Idee und davon, was die Zapatisten bis heute alles auf die Beine gestellt haben. Zudem begann seinerzeit meine Entdeckung der digitalen Welt und damit meine Ansicht, mit dem Schreiben und Publizieren von Texten auf Blogs und anderen Plattformen, selbst etwas bewegen zu können.
Ich muss ehrlich sagen, dass ich diese Annahme rückblickend für mich persönlich als Illusion ansehen muss. Klar, ich hab mit meinen Ansichten in meinem unmittelbaren Umfeld Diskussionen angestoßen. Und ja, ich hab mich auch das eine oder andere Mal mit Rassisten und Nazis virtuell im Netz geprügelt. Aber sonst? Ganz ehrlich?! Ich musste mir daher eingestehen, dass ich etwas Neues versuchen sollte. Irgendwie anders denken. Wieso nicht wirklich politisch aktiv werden? Acitivsm statt Slacktivism!
Ich ging also tief in mich, analysierte mein persönliches Wertesystem und fragte mich, was mir gesellschaftspolitisch wirklich wichtig ist. Wer bin ich? Anschließend schaute ich mir verschiedene Parteiprogramme an und glich diese mit meinen Werten ab. Was ist mir wichtig? Schließlich fiel mir die Entscheidung dann recht leicht und ist für mich nicht nur logisch, sondern auch folgerichtig: Ich bin progressiv, tolerant und weltoffen; mir ist es wichtig, mich für benachteiligte Menschen einzusetzen und Minderheiten zu stärken; ich lehne es ab, gierig und selbstgefällig nur an der Wahrung der eigenen Vorteile und der Mehrung des eigenen Reichtums zu arbeiten; ich möchte, dass Armut bekämpft und Kriege beendet werden; für mich ist Gutmensch nicht negativ konnotiert sondern eine positive Selbstverständlichkeit; ich bin gegen den erzwungenen Anzug am Laib und für die selbstbestimmte Freiheit zur Bedeckung auf dem Kopf; ich bin für die Liebe und gegen den Hass; gegen das „Haben“ und für das „Sein“; kurz: ich bin ein gnadenloser Utopist, der von einer besseren Welt für uns und für alle nachfolgenden Generationen träumt. Eine Welt, in der alle so sein dürfen wie sie sind und in der sie glücklich und in Frieden zusammenleben!
Oder um es anders auszudrücken: Ich nicht nur tief im Herzen, sondern auch klar im Kopf ein überzeugter Linker! Und nach Abgleich der Parteiprogramme und einer eingehenden Prüfung meines Gewissens entschloss ich mich zum 01. Mai 2016 in der, diversen sozialen Bewegungen nahestehenden, Partei DIE LINKE in Berlin-Neukölln einzutreten.
Ich bin ehrlich, ich taste mich immer noch etwas ran und versuche mich mit der Partei, den Menschen und ihrer Wirkung schrittweise vertraut zu machen. Ich bin nicht der Schreihals und auch nicht der Schnellste, bei mir ist es mehr eine Sache der kleinen und lautlosen Schritte anstatt der großen und lauten Sprünge. Politische Ambitionen hege ich nicht, vielmehr überwiegt die Neugier einmal mitzubekommen, was eine Partei eigentlich ist und was sie tatsächlich macht. Ich meide auch ganz bewusst die landes- oder bundespolitische Ebene. Sehr viel spannender finde ich, was direkt vor Ort im Lokalen passiert; parteipolitische Basisarbeit.
Vielleicht schreibe ich diesen Text auch ausgerechnet heute, weil ich für mich ganz besonders spannend fand, was wir heute als Arbeitsgruppe der Partei in Neukölln gemacht haben. Wir sind nämlich einfach mal losgelaufen, haben bei fremden Menschen an der Haustür geklingelt und haben sie nach ihren Problemen, Bedürfnissen aber auch nach ihren Vorschlägen und Ideen gefragt.
Wer mich in den vergangenen Jahren im Arbeitsumfeld kennengelernt hat, der weiß, dass das nicht ganz weit weg von dem ist, wie ich auch beruflich wirke. An den wesentlichen Prinzipien von Design Thinking und Service Design angelehnte „nutzer*innenzentrierte Innovation“ hatte ich es einst genannt: Die Menschen und ihre Bedürfnisse nicht nur im Fokus sondern als Ausgangspunkt für die gemeinsame und interdisziplinäre Entwicklung von Service-Lösungen und das ständige Hinterfragen und Verbessern des Status Quo – mit dem Hauptziel, die Bedürfnisse und Pain Points der Menschen aufzulösen.
Und was für (digitale) Innovationen gilt, das gilt erst Recht auch für Gesellschaft und Politik. Raus aus dem stillen Kämmerchen und ran an die Menschen; weg vom Rechner und den Sozialen Netzwerken und raus auf die Straße und an die Haustüren. Begegnen, fragen, diskutieren, verstehen, einladen, Angebote machen, mitnehmen, respektieren und involvieren. Das ist es, wie ich mir moderne und lebendige Politik im Sinne der Menschen vorstelle. Raus aus der Filterblase und rein in das wirkliche Leben.
Ich muss zugeben, dass das zu Beginn tatsächlich etwas Überwindung kostet. Mehr jedenfalls als der Klick auf „Gefällt mir“ oder das Schreiben dieses Textes. Es war nicht nur faszinierend, sondern auch inspirierend, mit den Menschen an den Türen zu sprechen und das eine oder andere Mal auch in die Wohnung eingeladen zu werden. Was ich heute gelernt habe? Demokratie, Politik und Gesellschaft haben eine Zukunft, wenn sie wieder glaubwürdig und auf Augenhöhe eng an die Menschen und ihre Bedürfnisse heranrücken und sie zum Ausgangspunkt ihres Wirkens machen.
Das heute war nur der Auftakt für ein langfristig angelegtes Projekt. Wir möchten nicht nur den Nachbarn im Kiez begegnen und mit ihnen über Ihre Probleme sprechen. Wir möchten diese verinnerlichen und Empathie dafür entwickeln. Und wir möchten langfristig und nachhaltig mit den Menschen aus unserer Nachbarschaft gemeinsam Lösungen erarbeiten, die einer größeren Gemeinschaft zugute kommen.
Gesellschaft lebt von Teilnahme und es braucht auch nicht die große Politik, um etwas im Kleinen zu bewegen. Bottom-up, statt Top-down.
Der Wind von Unten setzt sich in Bewegung.