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Lasst uns über Alternativen zum Nationalstaat diskutieren

Vor einem Jahr habe ich mich in einem Artikel mit den verschiedenen Facetten des Themas Migration auseinandergesetzt. Seinerzeit habe ich mich aus dem Fenster gelehnt und behauptet, dass das Konzept der Nationalstaaten „ein Auslaufmodell“ sei – trotz dem aktuellen Wiedererstarken von nationalistischen Strömungen in europäischen Gesellschaften. Auf Macht und wirtschaftlichen Interessen ausgerichtet, wurden Nationalstaaten seit ihrem Bestehen nicht selten zu einem Zwangsmantel für die vielen darin lebenden Menschen, in dem sie sich nicht selten dauerhaft verloren. Man bedenke auch die Kolonialgeschichte, wo europäische Staaten ganze Weltregionen beliebig untereinander aufteilten und zu künstlichen Nationalstaaten machten.

In meinem damaligen Artikel habe ich die Zukunft des Konstrukts „Stadt“ betont, in der ich als basisdemokratische und Toleranz fördernde Möglichkeit großes Potential sehe. Wenn man die aktuellen Ereignisse in Spanien rund um das katalanische Unabhängigkeitsreferendum betrachtet, dann kommt aber –
und das ganz unabhängig von Katalonien, wo sicherlich viele verschiedene Aspekte mit reinspielen – noch ein weiteres Konstrukt ins Spiel, das nicht minder interessant zu sein scheint: Die Regionen – in der die Städte wiederum eingebunden sind. Regionen, die selbst wieder Teil einer größeren solidarischen Gemeinschaft wie der Europäischen Union sein können.

Ohnehin, die EU. Natürlich wurde sie einst ins Leben gerufen von verschiedenen Nationalstaaten des europäischen Kontinents. Aber sind wir nicht inzwischen soweit, dass wir kritisch über die gegenwärtige Ausgestaltung dieser Gemeinschaft sprechen und alternative Modelle zumindest offen diskutieren sollten?! Wieso also nicht auch über die Möglichkeit, wie einzelne Teile Europas nicht als Nationalstaaten, sondern als Regionen beteiligt werden können?!

Das ist keine ganz neue Idee, sondern wabert schon seit einigen Jahrzehnten unter dem Schlagwort „Europa der Regionen“ durch die Lande. Und ganz ehrlich: Was wäre falsch an dem Gedanken, Europa nicht aus kleinen und großen Nationalstaaten zusammenzusetzen, sondern vielmehr aus mehreren ähnlich großen Regionen, die allein schon obgleich ihrer Größe ein stärkeres Involevement und Mitbestimmungsrecht ihrer Bevölkerung ermöglichen?!

Es ist sehr spannend, was seit einiger Zeit in Barcelona passiert. Die dortige Bürgermeisterin Ada Colau gehört der basisdemokratische Plattform Barcelona en Comú an, die bei den Kommunalwahlen im Juni 2015 die meisten Sitze errang. Ada Colau hat Barcelona seit ihrem Amtsantritt nicht nur in ein spannendes Versuchslabor für alternative zivilgesellschaftliche Modelle und basisdemokratisches Engagement verwandelt, sondern treibt auch die Vernetzung mit anderen Städten weiter voran. Im Juni 2017 hat in Barcelona zum zweiten mal die Konferenz „Fearless City“ stattgefunden, wo sich Vertreter*innen aus mehr als 150 Städten aus der gesamten Welt zusammengefunden haben, um sich über die politischen Herausforderungen im 21. Jahrhundert im Allgemeinen und die Zukunft der Städte jenseits nationaler Grenzen im Speziellen auszutauschen. Munizipalismus ist das zugehörige Schlagwort. Dass die Idee weit über die iberische Halbinsel hinaus lebt, zeigt auch das Beispiel der „Sanctuary Cities“ in den USA. Unter diesem Label haben sich rund 200 US-amerikanische zusammengeschlossen, um sich mit eigenen Regelungen gegen die Verschärften Einwanderungsgesetze des von Trump geführten Nationalstaats namens „USA“ zu widersetzen und dabei untereinander zu unterstützen. Ada Colau geht sogar noch einen Schritt weiter: Langfristig träumt sie von einer Art Uno der Städte. Von den Vereinten Nationen zu den Vereinten Städten, basisdemokratischere Strukturen inklusive.

Im Jahr 2030 werden knapp 80 Prozent der Menschen in Deutschland und 60 Prozent der Menschen weltweit in Städten leben. Das bedeutet aber auch, dass immer noch 20 bzw. 40 Prozent der Menschen nicht in Städten leben werden. Und damit möchte ich zurückkommen auf Katalonien und auf Ada Colau. Denn warum diskutieren wir nicht über eine Europäische Union, bestehend aus verschiedenen Regionen unter Einbeziehung der Städte als Alternative zum gegenwärtigen Konzept der Nationalstaaten?! Demokratisch legitimierte (!) Regionen, die innerhalb aktuell bestehender Staaten bestehen können, aber vor allem auch Regionen, die sich über verschiedene Nationalstaaten hinwegstrecken?! Regionen, die alle ihre Einwohner (nicht Staatsangehörige!) unabhängig von Staatsangehörigkeit, Sprache, Glaube, Ethnie basisdemokratisch einbinden und so zum einen nach Innen eine stärkere Nähe zu den Menschen schaffen und gleichzeitig nach Außen die Interessen in einer föderalen Sozial- und Solidargemeinschaft EU vertreten?!

Gerade in einer Zeit von wiederkehrendem Nationalismus, anhaltendem Vertrauensverlust in politische Mandatsträger und einem nach wie vor wild um sich schlagendem Neoliberalismus muss auch über solche alternative Ideen diskutiert werden. Und wenn wir schon – meiner Meinung nach zu Recht – darüber sprechen, große (Digital-)Konzerne aufgrund ihrer Marktmacht zu zerschlagen, wieso tun wir dies – im übertragenen Sinne nicht auch mit entsprechenden Nationalstaaten?! Quasi die (positive) Disruption eines bestehenden Konzepts, um es gemeinsam zum Mehrwert aller weiterzuentwickeln.

Versperren wir uns Gedankenspielen und Utopien nach neuen politischen Ideen nicht direkt, sondern debattieren wir über Vor- und Nachteile und entwickeln wir dabei neue Ideen. Das ist es im übrigen, was für mich eine gesunde demokratische Zivilgesellschaft unter anderem ausmacht. Behalten wir Menschen wie Ada Colau im Auge!

Ergänzung vom 12. Oktober 2017

Links bedeutet für mich, sich fortlaufend kontrovers mit politischen Ereignissen und Ideen auseinanderzusetzen und diese aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. Die Einordnung der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung wird in der deutschen Linken tatsächlich intensiv und sehr kontrovers diskutiert. Ich persönlich finde es unheimlich spannend und lerne an jedem Tag, an dem ich Artikel darüber lese oder mit interessierten Menschen (auch aus Spanien) darüber rede, mehr dazu.

Ich möchte auch nachdrücklich betonen, dass ich selbst weder die katalanische Unabhängigkeitsbewegung unterstütze, noch das Verhalten der spanischen Zentralregierung. Wie bereits geschrieben, kommen hier mehrere verschiedene Facetten zusammen und man muss die Geschichte, aber auch das spanische System (Spanien ist eben keine föderal Republik) berücksichtigen.

Links bedeutet für mich aber gleichzeitig auch immer wieder auf der Suche nach neuen Konzepten und Ideen zu sein, Utopien zu zeichnen und alternative Konzepte miteinander zu diskutieren. Und dazu können und sollten auch aktuelle Ereignisse und Entwicklung aufgegriffen werden, um davon ausgehend Gedankenexperimente loszustoßen. Und eben so verstehe ich die Frage hinsichtlich der Zukunft des Nationalstaates sowie den möglichen Alternativen.

Die Ablösung eines (nationalistisch geprägten) Nationalstaates durch viele kleine (nationalistisch geprägte) Nationalstaaten – zumal auf demokratisch nicht legitimiertem Weg weniger – kann für mich keine adäquate Lösung sein; die Auflösung des nationalistischen Konzepts an sich bei einer Weiterentwicklung eines solidarischen Gemeinschaftsmodell auf übergeordneter (in diesem Falle europäischer Ebene) sehr wohl. Es ist also in diesem Fall vielmehr eine länderübergreifende europäische Debatte, die ich spannend finde. Eine Debatte, bei der es um soziale Fragen geht, um Solidarität, um länderübergreifende Gemeinschaft; um basisdemokratische Konzepte; um zivilgesellschaftliche Bewegung; um die Überwindung von Einordnungen von Menschen nach Staatsangehörigkeit, Ethnie, Glaub, Sprach, Einkommen, Klasse etc. Daher auch der explizite Verweis auf das Modell „Stadt“ und dessen Perspektive, dem ich großes Potential zugestehe (bei gleichzeitigen Schwächen, insbesondere durch Abgrenzung von urbanen und ländlichen Räumen).

Das alles ist völlig unabhängig von den Ereignissen in Katalonien. Diese waren vielmehr der Anlass, mich an dieser Stelle damit zu beschäftigen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema wird ganz gleich des Ausgangs in Spanien und anderen Regionen nicht abgeschlossen sein, sondern weiter anhalten. Ich werde bis dahin viele Artikel lesen und mit vielen Menschen darüber sprechen. Meine Gedanken werden sich dadurch verändern, meine Einschätzung und Meinung sicherlich bewegen. Das ist es aber auch, was ich als gesellschaftlich wichtig und nicht zuletzt auch als „links“ empfinde: Bestehende Konzepte nicht als alternativlos und für immer bestehend ansehen, sondern sich durchaus Gedanken darüber machen, wie diese zum Wohle aller auch weiterentwickelt werden können.

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